Grande Silvio

Kleines Protokoll eines Staatsbesuches

(deeer Silvio besucht heute unsere Stadt. Die Ehre haben wir seiner rechten Hand, die gleichzeitig unserem ExBürgermeister gehört, Claudio Scajola, zu verdanken.)

Helikopter umrunden Kamine. Im Hintergrund Sirenen, allegro, ma non vivace. Die hellblauen Blitze der Streifenwagen wirken im strahlenden Sonnenschein etwas unterbelichtet. Grünrotweisse Flaggen hängen kraftlos an vergoldeten Stangen. Gewöhnlich weht hier doch ein kräftigerer Wind?
Prächtige, grossgewachsenen Carabinieri in schwarzen Hosen mit breiten roten Streifen stehen stramm, schon zwei Stunden vor der Ankunft. Ubbidienza preacox? (Und frau fragt sich, aus welchem Hut man sie wohl hervorgezauber hat. Warum sieht man sie sonst nie in unserer Stadt, diese fleischgewordenen, herrlichen Schwiegermütterträume?)

Irgendwie fehlt er ihnen halt doch, der König.
Sie wären die idealen Untertanen für einen Monarchen. Die Fans, die seit Stunden ausharren. Die richtige Mischung von unterwürfiger Naivität, Theatralik und leidenschaftlicher Heldenverehrung haben sie mit dem Vaterwein eingesogen. Geduldig stehen sie in der fünften Reihe, und wenn er dann kommt, wenn er sein strahlendes Gebiss zeigt, dann ist es einfach nicht mehr wichtig, ob denn nun die ursprüngliche Gesinnung rechts oder links oder schwarz oder rot oder blau gewesen wäre. Dann ist grande Silvio einfach eine "vera figura", un carattere". Und keinen Moment zweifeln sie daran, dass er sie wirklich liebt, die Abertausenden von Stiefmütterchen, die sie ihm zu Füssen gepflanzt haben. Und sein Volk. Und eine harmlose Kleinstadt wie die ihre.

"Die hätten besser Tomaten gezüchtet, zum Empfang von diesem Tizio", meint Sergio trocken, während er die Schrauben, die er bereits zum dritten Mal abgezählt hat, sorgfältig auf ein Klebeband fixiert. Er rollt das Band zusammen, umwickelt es mit Zeitungspapier, stopft alles in eine Plastiktüte und öffnet die Kasse. „Tre Euro“ verlangt er, und um E uuu r o auszusprechen, verzieht er das Gesicht, als müsste er mit der Zunge einen Speiserest aus dem hintersten Backenzahn entfernen. "Vor zwei Jahren hat dieser Dreck nur hundert Lire gekostet! Auf das müsste man ihn mal ansprechen, diesen feinen Herrn da draussen. Und dass mein Sohn in der Fabrik 750 Euro verdient im Monat. Für Schichtarbeit. Erklär du mir mal, womit der heiraten soll."

Ich könnte Sergio jetzt verraten, dass sein Sohn vermutlich niemals heiraten wird. Weil ich ihn vorgestern im Kino mit einem Freund habe knutschen sehen. Aber ich möchte meine Schrauben. Weil zuhause Carlo ohne diese Schrauben nicht weiterarbeiten kann Und dieser Carlo 20 Euro pro Stunde verlangt. Schwarz. Und weil so ein kompliziertes Gespräch bei Sergio sich in die Länge ziehen kann, wenn es erst mal an Tiefe gewonnen hat.
Ich lächle diplomatisch: "Immerhin hat sich die Stadt doch endlich einmal herausgeputzt. Es ist doch ein wichtiges Ereignis. Und er ist euer wichtigster Mann."
Sergio knallt die Kassenschublade zu. "Wichtig? Für die Idioten draussen ist dies vielleicht ein Ereignis! Für ihn höchstens ein Termin!"
Doch dann begleitet er mich doch bis zur Tür. Zum ersten Mal, seit ich hier Kundin bin. Auch wenn ihn das Geschehen draussen vor seinem Schaufenster überhaupt nicht interessiere. Natürlich nicht.

Die unvermeidlichen schweren Motorräder fahren vor, das sichere Signal des Unabwendbaren. Dann endlich die Limousinen. Und er. Mit einem eleganten Schwung steigt er aus dem Wagen. Was für eine Elastizität! Was für ein smartes Lächeln! Was für eine optimistische Jugendlichkeit. Das Lifting hat sich wirklich gelohnt. Er will sich für sein Land ja schliesslich auch in Zukunft opfern dürfen.
"Quanto sembre pulito!" stöhnt eine ältere Dame und sie hat Recht. Er wirkt unglaublich sauber, frisch gewaschen. Ein Abend am Kamin, mit so einem Mann! Das Näschen am blütenweissen, gestärkten Hemdenkragen, die Füsse auf dem Sofa, anlehnen an ihn, sich die Haare kraulen lassen, den frischen, mächtigen Duft schnuppern, die Augen schliessen und einfach nur wissen: Er hat alles im Griff..

Der Applaus reisst mich aus den Träumen. So viele traute Abende würden es vermutlich nicht sein, tröste ich mich, wie er der jubelnden Menge zuwinkt. Ob er mich gemeint hat, gerade jetzt, mit diesem siegesbewussten Blick genau in Richtung Ladentür von Sergio?
"Cretino" knurrt Sergio, und knallt die Ladentür zu..

Der König entschwindet. Taucht ein ins Theater, ins teatro cavour, in einen engen Kreis von Auserlesenen, die hier in der Stadt bereits ein wenig wichtig waren. Und die, wenn sie in einer Stunde wieder ins Tageslicht heraustreten werden, es noch ein wenig mehr sein werden. Wichtig.

In der Bar am Ende der Via Cascione ist die Stimmung jetzt gelöst. "Gib mir schnell ein panino" ruft ein Gast.
"Jetzt schon?" erwidert Mario der Wirt, erstaunt. Der Gast grinst:
"In der Stampa steht, dass er nach der Konferenz nur schnell etwas Leichtes essen will, bevor er zurück fliegt. Meinst du, ich will riskieren, dass er und seine Schimpansen mir mein Panino wegfressen?" Gelächter.
"Die gehen doch nachher ins feinste Restaurant der Stadt, zu Tonino!“
"Es täte ihm aber gut, mal deine staubtrockenen Panini auszuprobieren. Ueberall, wo der entlanggeht, streuen sie Blumen, fegen sie Trottoirs. Nie, nie muss der einen Parkplatz suchen, über einen Hundedreck steigen - nie steht der im Stau. Durch seine Kehle rinnt nur das Köstlichste. So einer kann doch gar nicht regieren. Der lebt doch völlig an der Realität vorbei."
"Eigentlich ein armes Schwein!" wirft da ein anderer ein.
Dieser Mann ist mir schon öfters aufgefallen. Ein hagerer Typ, Ausländer, Holländer vermutlich. Immer hinter Zeitungen versteckt. Professore nennen sie ihn hier in der Bar. Spiegel, Nice Matin, Repubblica“ - er scheint ein Sprachgenie zu sein. Er deutet auf die „Stampa“ auf den Tresen. "Gli orari sono ballerini" zitiert er ironisch die Ueberschrift zum heutigen Grossangriff. "Ballerini! Ihr habt wirklich ein Talent, mit schönen Worten Fehler in Tugenden zu verwandeln. Da wo ich herkomme, ist ein Stundenplan keine Ballerina, und wer nicht nach der Uhr tanzt, hat ausgetanzt."
"Darum bist du ja auch in Italien gelandet", antwortet Mario.
"Bravo! Gut pariert!“ De Professore grinst und legt ein paar Centesimi auf die Bar. "Eigentlich sollte man dich zum Bürgermeister vorschlagen, carissimo! Aber Politik ist ein Drecksgeschäft. Das passt nicht zu deinen himmelblauen Augen." „Haben Sie denn nicht….“  betreten breche ich ab, denn  Mario wirft mir einen drohenden Blick zu. Er will also nicht, dass das Gespräch auf die zweitwichtigste Angelegenheit unseres Städtchens kommt.  "Wenn der die Augen nicht offen hat..." zischt er.

Die Sache ist die: Unser Mario kandidiert. Für die Regionalwahlen. Eines seiner riesigen Konterfeis hängt genau gegenüber der Bar an einer trostlosen Mauer. In Weltplakatformat. Mario mit gepudertem Näschen. "Einer, der weiss, was das Land braucht". Ich weiss nicht. Ein Fiesling hat ihm über Nacht zwei Schneidezähne schwarz angemalt.

Noch immer kreisen die Helikopter um unser Theater. Er ist also noch da. Redet.
Unsere Kleinstadt besitzt leider kein richtig repräsentatives Gebäude für wichtige Empfänge. Aber eigentlich passt das Cavour ganz gut. Die reich verzierte Fassade. Dass es ein Theater ist. Es lohnt sich nicht, extra einen Palast zu bauen, für ihn. Es wird Jahre dauern, bis er sich wieder einmal hierher verirren wird, wenn überhaupt, der grosse Silvio.

Heute hat übrigens die italienische Fluggesellschaft gestreikt. Unser Chef und sein Helikopter haben den Himmel ganz für sich alleine. Heute.


Silvia Gillardon