Volare
Die blonde Frau, die Serafino eine ganze süsse Nacht lang in die Geheimnisse der tantrischen Liebe eingeweiht hatte, war längst entschwunden.
Aber die Flügel, die seiner Seele gewachsen waren, liessen ihn auch nach Sonnenaufgang weiterschweben. Serafino wunderte sich kaum, als er realisierte, dass er fliegen konnte. Nach so einer Nacht. Es war ihm, als hätte er die Welt schon immer von oben betrachtet, als er im ruhigen Gleitflug über seiner Stadt schwebt.
Nur kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Schwester Concetta, die sich gewöhnlich um diese Zeit auf ihrer Terrasse ihren dritten caffe macchiato genehmigte, mit einem kühnen Looping zu erschrecken. Aber dann erschien ihm dieser kleine Scherz als zu banal.
So hielt er schnurgerade Kurs auf sein eigentliches Ziel. Sein tägliches Ziel. Das Ministerium.
“Mein Mysterium“, summte er, als er vor der Zypressenalle zum Landeanflug ansetzte und sich nach einer kunstvollen Pirouette direkt vor dem prächtigen Hauptportal niederliess.
Niemand hatte ihn beobachtet. Sehr gut. Seine Kollegen waren also alle schon drin. Das hiess, dass schon bald die erste Zigarettenpause angesagt war. Luciano, der Portier, dürfte noch mit der Gazetta dello Sport beschäftigt sein. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Halb neun. Er musste sich beeilen.
Serafino zog die Spraydose aus seiner Hosentasche und machte sich unverzüglich ans Werk. Dann trat er zwei Schritte zurück und musterte zufrieden sein Werk.
Dies erfüllte Serafino Modesta mit grosser Befriedigung. Wenigstens besass er jetzt schwarz auf weiss, was er schon immer gewusst hatte. Er war nicht verrückt. So akzeptierte er die Strafe widerspruchslos: Die definitive Amtsenthebung und die Rückstufung um eine halbe Gehaltsklasse.
Schützend stülpte er sein Jackett über den Kopf und eilte durch das Blitzlichtgewitter hindurch zum Ausgang. „Kein Kommentar“, rief er immer wieder.
Serafino Modesta wollte nur noch eines.
Und die blonde Frau, die vor seinen Haus ungeduldig auf ihren Helden wartete, hatte auch nichts anderes vor als: